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Kurzgeschichte: Die Farben der Hinterwäldler

Letzte Änderung 29. September 2014

Die Farben der Hinterwäldler

Der Tod ihrer letzten Mitbürgerin hat die Einwohner des kleinen Dorfes Urft ziemlich aufgerüttelt. Weiblicher Nachschub ist dringend erforderlich, doch zunächst gilt es den letzten Junggesellen aufzuhalten. Diesen verschlägt es nämlich in die Großstadt. Zum ersten Mal müssen Totengräber, Pfarrer, Schäfer und Bürgermeister zusammen arbeiten, sonst droht der kleine Weiler endgültig von der Landkarte zu verschwinden …

Teil 1 von 5: Fischgrätenblau

Das Schicksal spielt gemeinhin unfair. Ist es einer Spezies überdrüssig, werden die finalen Trumpfkarten ins Spiel geschmettert: Die Karten sausen herab und bilden in aschfahlen Lettern das Wort ‚Extinktion‘. Unter mächtigem Donnern fegt es sämtliche Spielfiguren vom Brett: Naturgewalten, berstende Atomreaktoren, Hungersnöte, niederfahrende Kometen oder blutrote Aktienkurse putzen aus, formen Geisterstädte, machen Tabula rasa mit der Geschichte. Eine ähnliche Nemesis sollte nun den Dorfbewohnern aus Urft zu Teil werden – allerdings mit deutlich weniger Paukengewirbel. Es war vielmehr ein überaus dämlicher Fehler, der sich über die Jahre ins demografische Geflecht eingeschlichen hatte. So überaus unscheinbar, dass er lange Zeit von niemandem registriert wurde. Bis zu jenem Tag ...

Alles begann mit dem Tod von Fräulein Rosenbeck. Zugegeben unverhofft, wenn auch nicht sonderlich spektakulär: Eine verzweifelte Hand, die  Richtung Essigflasche zuckte. Ein kurzes Röcheln. Dann brach sie über dem Topf mit der Sauce Hollandaise zusammen.
          „Bedauerlich. Sehr bedauerlich“, grummelte der Haarige Wieland zwei Tage später, als der Sarg sich in die Erde hinabsenkte. Das wunderte viele der Umstehenden. Vielleicht, weil es äußerst selten vorkam, dass der bärtige Schäfer Zunge und Stimmbänder benutzte. Vielleicht auch, weil man sich nicht sicher war, ob er der Verstorbenen oder der halbverzehrten Forelle hinterhertrauerte. Schließlich war der Fisch noch an seiner Angelrute gehangen, bevor er zum Corpus delicti wurde.
          Mit einem Dutzend Trauergästen war fast das ganze Dorf anwesend. Die meisten kannten Rosenbeck nur als launische alte Dame – einschließlich Pfarrer Ketzmaier, der aus diesem Grund einen leidenschaftlichen Vortrag über Lilien hielt, die zukünftig das Grab schmücken sollten. Erst bei der Ausschlachtung ihres Hauses offenbarte sich so manch dunkles Geheimnis: Die Alte besaß wohl eine Vorliebe für spitzhakige Highheels und Pumps. Neben den Schuhkadavern fanden sich überall Reste von Porzellantellern und Tonscherben. Nie hätte man hinter diesen pinken Rüschenvorhängen das Reich einer Schuhfetischistin vermutet. Brauchbar war dieses Erbe kaum, besonders da niemand Größe 38 besaß.

Eine halbe Woche später. „Fahr dahin. Fahr dahin“, trällerte Ante, der Totengräber, als er auf seiner schwarzen Droschke die Hauptstraße hinunterbollerte. Keiner wusste recht wieso, doch in jenen Tagen fanden sich alle ausgesprochen guter Dinge. Ein eigentümlicher vorparadiesischer Zustand hatte sich eingeschlichen – für einen Moment erstrahlte Urft frei von den Miseren weiblicher Niedertracht. Und was gab es schöneres, als bei herrlichem Sonnenschein eine frische Ladung Grabsteine zu transportieren?
          Den Weg vom Steinbruch hätte Ante selbst bei Neumond und mit zwei Promille bestritten. (Was überaus selten der Fall war.) So kam es, dass er bereits am Ortseingang die Veränderung witterte. Da passte was nicht ins Bild, das sich ihm über die Jahre in die Synapsen gebrannt hatte – so als hätte das Uhrwerk des Dorfalltags einen winzigen Schlag abbekommen. Quietschend kamen die Kutschräder vor dem Schuhgeschäft zum Stehen.

„Tut mir Leid, Ante, aber wir haben geschlossen.“ Edward Schmierstraff – Schuster und mit dreißig Jahren jüngstes Dorfmitglied – verschwand hinter einem Turm aus Kartons. Es war schon lange her, dass Ante den schnöseligen Laden betreten hatte. Offenbar befand sich einiges im Umbruch. Seine Augen verfolgten Bente, Edwards kleiner Schnauzer. Sie war nicht größer als die Schuhkartons durch die sie sich kämpfte, purzelte mehrmals über verschiedene Leder- und Kunststoffe, sprang über undefinierbare Zangen und duckte sich unter den dreibeinigen Schemeln hindurch.
          „Also, wer ist es diesmal? Wer muss heute unter die Erde?“ Edward drückte sich mit mehreren duzenden Schuhcreme-Sorten durch die Tür.
          „Niemand, mir viel nur dein Schaufenster auf. Das wirkte heute so… anders.“
          „Tut es das?“
          „Du bist wohl am Renovieren?“
          „Nicht ganz. Ich ziehe aus. Au revoir, Urft – willkommen, Großstadt!“ Eines der Fettnäpfchen purzelte ihm aus der Hand auf einen Stapel Kartons. Ante war geschickt genug, der Lawine auszuweichen – der Schnauzer hatte weniger Glück. Fluchend beugte sich Edward nach unten und begann mit der Bergungsarbeit.
          „Heißt das, du verlässt uns?“, es dauerte eine Weile, bis er das verdaut hatte.
          „Ja, sieht wohl so aus.“
          „Aber, wie …?! Niemand verlässt Urft. Nicht im Frühjahr. Und wenn, dann über den Fluss.“ Damit meinte er die Reihengräber am anderen Ufer. Seit Generationen hatte es keine ‚Emigranten‘ gegeben – alle traten sie ihre letzte Reise bei ihm an. „Gut, du bist Unverheiratet. Jung. Aber, die Großstadt. Ich weiß ja nicht… Anonyme Gräber, die hohen Friedhofsgebüren. Ich sag dir: So eine Metropole ist ein industrieller Fleischwolf für junge Träumer wie dich!“
          Edward zog etwas aus dem Trümmerhaufen. Es war nicht Bente sondern ein weiterer Schuhkarton mit den hässlichsten Lackschuhen, die Ante je gesehen hatte. „Fällt dir was auf?“
          „Lila war noch nie meine Farbe.“
          „Das Paar stand immer ganz vorne im Schaukasten. Hab sie da bei meinem Einzug platziert.“
          „Sehr traurig, zugegeben. Aber du weißt ja wie das ist mit der Mode.“
          „Pantoffeln, Gartensandalen, Holzschuhe und Lederstiefel - unzerstörbare Raulederlatschen. Einmal gekauft und bis zum Tod durchgewetzt. Dies, mein lieber Ante, ist der hiesige Modegeschmack.“ Er pfefferte die Schuhe in eine Ecke und setzte seine Befreiungsaktion fort.
          Ante wurde klar, dass er etwas unternehmen musste. „Da mag was dran sein. Lila wird auf dem Land durchaus unterschätzt.“ Flink sprang er über einen Kartonhaufen und begann die Schuhe wieder einzusammeln. „Wenn ich‘s mir recht überlege.“, und damit hatte er sie wieder beisammen, wog sie prüfend in Händen und kam zum Entschluss, dass Lila eine überaus hässliche Farbe war, „könnte ich mich vielleicht mit dem Gedanken anfreunden.“ Er rang sich ein Lächeln ab. „Ich bin mir sicher: Ein bisschen Werbung und du bist wieder im Geschäft.“
          „Urft braucht keinen Schuster. So einfach ist das.“
          „Aber du machst das doch seit Jahren. Was hat sich verändert?“
Der andere lachte verbittert. „Also gut. Hier hast du dein Futter für den Dorftratsch.“ Mit einem Ruck zerrte er den Köter aus dem Trümmerhaufen. „Der Verlust meiner einzigen Kundin – das macht das Geschäft unlukrativ. Sie war die letzte, die einzige Frau. Glaubst du ich begnüg mich für den Rest meines Lebens mit einer Hand voll Herrenhalbschuhe?“ Damit ging er zur Ladentür, stieß sie auf und gab ihm mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er allein sein wollte. „Es ist längst Zeit für einen Neustart. Vielleicht bei einem Orthopäden oder als Ballettschuhmacher an einem Opernhaus. Wenn du mich jetzt entschuldigen könntest?“

Am Ende hatte Ante darauf bestanden, wenigstens noch das lila Schuhpaar kaufen zu dürfen. Im Nachhinein wusste er nicht genau, was ihn da geritten hatte. Vielleicht, weil er immer noch glaubte, damit seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Doch erst als er wieder auf dem rabenschwarzen Kutschbock saß, traf ihn das volle Ausmaß der Erkenntnis: Die LEZTE Frau, hatte er gesagt. Verflucht! Irgendwann würde das auch ihn betreffen! Keine Frauen bedeute Negativwachstum. Rapider Bevölkerungsschwund und keinerlei Nachschub an Klienten – weder für den Schuster, Urft oder seinen Friedhof. Eine reine Herrenkommune, abgeschottet von der Außenwelt. Das konnte weder mathematisch noch biologisch auf Dauer funktionieren! Sie würden aussterben, eingehen, verschwinden – erst aus den Zeitungsanzeigen, dann von den Landkarten und schließlich aus dem Bewusstsein. Vertilgt, verdrängt, vergessen – durch die eigene Impotenz!
          Ihm wurde schwindlig, was mitunter daran liegen konnte, dass ihm einer seiner Steine vom Wagen gerutscht war. Kurz schwankte die Kutsche hin und her wie ein übergroßes verbranntes Puppenspielzeug. Dann fing er sich wieder. Noch war der jüngste Tag nicht gekommen. Noch konnte alles abgewendet werden. Vor ihm ließ die schwarze Stute einige Pferdebollen auf die Straße fallen. Frauen, dachte er verbittert, die Welt konnte nicht ohne sie auskommen.

Fischgrätenblau

Teil 2 von 5: Derbyscharz

Man stelle sich Nebel vor – eine kräuselnde Wasseroberfläche, auf der das Mondlicht zu tanzen begann. Man stelle sich das gleichmäßige Plätschern eines Ruderriemens vor – die Silhouette des dunklen Bootsmannes, der auf die andere Seite übersetzte. Es war nicht Charon, der Fährmann der Unterwelt. Dafür türmten sich zu viele Highheels, Pantoffeln, Pumps, Sandalen und Gummistiefel auf dem Verladedeck. Es war Ante, der Totengräber aus Urft, der sich auf ungewöhnlicher Mission befand. Ein maroder Käsedunst hing über dem Floß und erweichte selbst seine abgestumpfte Nase. Die Dinger mussten schleunigst verschwinden. Ab unter die Erde, bevor er seinem Frühstück wieder begegnete. Und dabei war die Idee mit der Schuh-Razzia auch noch auf seinem Mist gewachsen…

„Muss ich mir Sorgen machen, Herr Krummstein?“ Es war zwölf Stunden vorher in Wielands Scheune. Immer dienstags erwachte hier neben dem Schafgatter ein kleiner Friseursalon zum Leben und immer dienstags kurz vor zwölf konnte man mit großer Wahrscheinlichkeit Bürgermeister Erlenberg antreffen. Etwas Rasierschaum tropfte ihm vom Kinn, als er sich vorbeugte, um Antes Schuhwerk zu begutachten. „Ich möchte ja nichts sagen, aber irgendwie beißt sich das Lila doch ziemlich mit den Socken, der Hose und… naja, allem, was darüber kommt.“
          Erlenberg mochte es direkt, auch wenn er selbst das Direkte am wenigsten vertrug. So beharrte er als einziger im Ort auf dem Privileg, gesiezt zu werden. Ante hatte längst vergessen, dass er die Lila-Schuhe immer noch anhatte. Ihn beschäftigten mehr die Worte, die er sich für diese bürgerliche Audienz zurechtgelegt hatte. Wie brachte er es Erlenberg nur schonend bei?

Seine Umsichtigkeit sollte sich ausgezahlt haben. Keine zehn Minuten später und Erlenberg befand sich kurz vor einem Nervenzusammenbruch. „Langsamer Atmen“, raunte Wieland, verstärkte den Schultergriff und sah zu wie der Adamsapfel des Bürgermeisters hysterisch auf und ab tanzte.
          „Eine Katastrophe!“ hechelte dieser seinem eigenen Atem hinterher. „Keine Frauen, keine Zukunft. Keine Zukunft – nicht auszudenken. Alle unsere Altvorderen, Großväter, Urgroßväter – alle haben sie das doch geschafft. Ich meine, sonst wären wir nicht hier. Seit tausenden Jahren Menschheitsgeschichte. Und bei uns zerbröckelt alles zu Asche! Wie konnte das passieren?!“
          „Schlimmer. Der Schuster ist unser einzig verbliebener Junggeselle. Quasi das letzte Ass im Ärmel.“ Erlenbergs Kopf schnellte blitzartig zu ihm herum. Sein roter Hals verfehlte um Haaresbreite die Rasierklinge, doch das schien ihm im Moment nebensächlich.
          „Pah, als läge unser Schicksal zwischen den Schenkel dieses …“ Ihm fiel etwas ein. „Wieland zum Beispiel könnte sich doch bestimmt vorstellen nochmal zu heiraten. Nicht wahr?“ Der Angesprochene machte ein Geräusch, als ersticke er an einem Schleimklumpen. „Oder Sie, Herr Krummstein? Ein Edelmann in Schwarz auf leuchtenden lila Sohlen.“ Ante lächelte so breit, dass Erlenberg seine Goldzähne sehen musste. Er trainierte diese Mundbewegung häufiger, für den Fall, dass ihm jemand lästig wurde. Insgeheim nannte er sie den ‚Blick der Hyäne‘.
          „Ich glaub, sie haben da Mangold an ihrem Eckzahn. Zum Teufel, jetzt reißen Sie sich zusammen. Schließlich geht es hier um den Erhalt unserer Gemeinde. Das ist eine Bürgerpflicht, der jeder nachkommen muss. Und wenn ich es persönlich in die Hand nehme!“
          Schaudernd blickten sich Ante und Wieland an. Der Hüne sprach aus, was beide dachten: „Wir sollten doch lieber den Schuster aufhalten.“

An jenem Abend bugsierte der ahnungslose Edward Schmierstraff Rucksack und Hund vor die Tür. Er hatte sich nicht entscheiden können, welche seiner Lieblingssandalen mitsollten. Drum hatte er sie alle fein säuberlich an Hüftgurt und Riemen befestigt. Der Herd war aus. Hammer-, Flick-, Faltzange nebst Risskratzer fein säuberlich eingewickelt. Die Notfall-Ersatzschnürsenkel sicher verstaut. Übermorgen würde ein Packdienst die restlichen Schuhkartons abholen. Bis dahin… Er zerknüllte seine Checkliste. Ab  in die Freiheit, bevor ihn jemand aufhalten konnte.
          Mit seinen orangefarbenen Budapestern schritt er zügig die Hauptstraße hinunter. Sie eigneten sich nicht für weite Strecken, doch er liebte diese Schuhe einfach: Hochglanzpoliertes Ziegenleder, der Schaft im edlen Derbyverschnitt und an der Spitze eine grazile Fullbrogue-Lochverzierung in Schottischer Art. Zwei Häuser rechts, dann links an der Kirche, rechts am ‚Apotheker‘ vorbei und er wäre ein freier Mann.
          Nervös bemerkte er Ante auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Doch dieser knotete nur beiläufig seine Schnürsenkel – schien keinerlei Notiz von ihm zu nehmen. Glück gehabt. Auf Smalltalk konnte Edward jetzt verzichten. Plötzlich stieß etwas an seine Schulter. Es war der Haarige Wieland, der mit einem Lamm unterm Arm Richtung Scheune hastete. Junge, was für ein Betrieb! Ein kurzes Nicken, dann verschwand er barfuß im Tor – barfuß?
          Am Dorfbrunnen herrschte ebenso reges Treiben. Vielleicht ein merkwürdiger Zufall, denn jeder schien in seine eigene Arbeit vertieft: Da goss Pfarrer Ketzmaier die Lilien vor der Kapelle – rutschte um ein Haar auf seinen eigenen Fußzehen aus. Dort saß der Apotheker und schmierte seine rissige Hornhaut mit einer Salbe ein. Weitere nackte Füße, die an ihm vorbeitappsten – mit eingerissenen Nägeln und bis zu den Knien staubverschmiert. Litten die Dorfbewohner an akutem Hunger? Hatten Sie über Nacht all ihre Schuhe zu Suppe verarbeitet?
          „Sie verlassen uns, Herr Schmierstraff?“ Erschrocken fuhr er herum: Vor ihm standen zwei haarige Beine, die in einem eigentümlichen Zeitungskonstrukt steckten. Sie gehörten zu Erlenberg, der ihm stoisch zunickte. „Ein herber Verlust, das muss ich zugeben. Was soll Urft nur ohne Sie machen?“ Damit gab er ihm einen kräftigen Klapps auf die Schulter. „Ich mag diese Abschiedsdudelei nicht. Daher kurz und förmlich: Im Namen der Gemeinde wünsche ich Ihnen alles Gute.“
          Dann brach er ihm mit seinem Händedruck beinahe die Finger, nickte erneut und ließ ihn einfach stehen. Im Abgang stolperte er jedoch mehrmals über das Zeitungspapier. Es hatte sich bereits gelöst. Beinahe hätte ihm Edward nachgerufen, hätte gefragt, was um Himmels Willen hier eigentlich vor sich ging. Aber das war ein Spiel, soweit durchschaute er die Lage. Wer zuerst das Offensichtliche aussprach, hatte verloren. Also biss er sich auf die Unterlippe und marschierte ohne sich umzudrehen weiter – Scheuklappenmodus. Am Ortsschild konnte er dann doch nicht widerstehen. Wie Orpheus, der bereits mit einem Fuß dem grässlichen Hades entflohen war, riskierte er einen letzten Blick:
          Da standen sie alle auf dem Marktplatz versammelt – Wieland immer noch das Lämmlein unterm Arm – schauten ihm hinterher. Eine Reihe kalter, nackter Bauernfüße, die hilflos dem schürfenden Asphalt ausgesetzt waren. Die Schuhe an seinem Rucksack fühlten sich auf einmal mächtig schwer an. Diese elenden Mistkerle hatten ihn übertölpelt.
          Ein dumpfes Plumpsen, als ihm der Riemen von der Schulter glitt. Ein leises Stöhnen, denn er kam sich wirklich miserabel vor. Dann ging er auf sie zu…
          „Deine Größe war 49, Wieland, richtig?“
          Der Hüne nickte. „Im Handel finde ich nie welche.“
          „Also ein paar kräftige Arbeitsstiefel. Hartleder – gut bei Witterung. Steife Sohlen. Dicht gefüttert – angenehm im Sommer. Warm im Winter.“
          „Ein paar Hausschuhe wären auch nicht schlecht. Sandalen und …“
          „Gummistiefel zum Angeln?“ Der mächtige Bart erzitterte und offenbarte ein breites Honigkuchen-Lächeln.
          Etwas abseits sprang Ante wieder auf den Kutschbock. So hässlich die lila Schuhe doch waren, verwandelten sie seine Plattfüße in ein Paar Garzellen. Vielleicht war es gar nicht so schlecht gewesen, die vielen alten Latschen zu verbuddeln. Damit bestätigte sich zumindest die Totengräber-Weisheit: Verscharre das Altes, damit das Neue darauf erwachsen kann.

Derbyschwarz

Teil 3 von 5: Zwangsjackenweiß

Immer wenn ihm die Hektik im Dorf zu viel wurde, brachte Wieland seine Schafe auf die Weide. Eigentlich war es eine offene Wiese am Bach, denn Zäune hielt er für unnötigen Komfort. Mit der Angelrute vollführte er einen eleganten Gebetsroither-Wurf. Die Rute hatte er eigenhändig präpariert. Sie war multifunktional einsatzfähig: Zum Fliegenfischen und – nun ja – falls ihm doch mal eines seiner Zöglinge entwischte.
          Der nächste Wurf ging daneben, denn er erhaschte etwas am Waldrand, das er sich schon vor Jahren ausgeredet hatte: Es war ein kleines Männchen. Ein Zwerg. Ein winziger Gnom, der auf einem seiner Schafe davonritt. Schon seit einer Ewigkeit hatte er diese Halluzination nicht mehr gehabt. Vielleicht irgendwelche giftigen Dämpfen, die aus dem Wasser aufstiegen. Sollte er dem Phantom nachlaufen? Ihn mit der Angel zur Strecke bringen? Und selbst wenn. Was schadete schon ein kurzer Spazierritt? So ein Ausflug tat den Tierchen sicherlich mal gut.

An diese Erscheinung knüpfte sich ein nicht minder unerwartetes Ereignis. Totengräber Ante wollte gerade Richtung Steinbruch abbiegen, da kam ihm ein scharlachroter Kleinwagen entgegen. Rot und klein, dachte er – kein Postbote, keine Polizei, kein Krankenwagen, nicht mal die Feuerwehr. Und das letzte gewöhnliche Personenkraftfahrzeug, das ihm einfiel, bemühte sich hinter Wielands Scheune zu Rost zu zerfallen. Das erschien ihm doch äußerst merkwürdig. Schlimmer noch: Das Gefährt blieb direkt neben seiner Kutsche stehen und ein offenbar elektronischer Mechanismus öffnete eines der Seitenfenster.
          „Bitte entschuldigen Sie, aber haben Sie zufällig einen Spaziergänger gesehen? Weißes Oberteil. Etwa Einszehn groß. Muss vor kurzem hier vorbeigekommen sein.“ Potzblitz, der Fahrer war eine Frau! Sie war eine sie! Eine sanftmütige Frauenstimme! Weibliche Gesichtszüge verdeckt hinter einer Sonnenbrillen-Fassade! Er gab sich viel Zeit mit einer Antwort, was sie dazu verleitete ihren Motor abzustellen.
          „Sie suchen jemanden, der Richtung Urft unterwegs ist?“
          „Höchstwahrscheinlich. Ist das der kleine Weiler da vorne?“ Ante wurde ganz hibbelig. Sie schien um die dreißig zu sein, durchaus adrett mit gebärfreudigen Hüften, sofern er das von seiner Position aus beurteilen konnte. Wann schenkt einem das Schicksal einen solchen Wink?
          „Ja und nein. Bedaure, ich habe niemanden bemerkt“, bevor sich ihre Gesichtszüge veränderten, setzte er im selben Atemzug hinterher, „Aber folgen Sie mir doch ins Dorf. Da kennt jeder jeden. Und ich bin mir sicher, irgendwem ist bestimmt was aufgefallen.“

Dieser jemand war Pfarrer Ketzmaier, der etwa zeitgleich vor dem Kirchportal stand und sich Schafskot von den Sohlen rieb. Dieser Wieland, dachte er verbittert. Jetzt ließ er seine Tierchen wirklich überall weiden. Aber gut: Gnade vor Unrecht. Die Lilien waren nicht angeknabbert und seine frisch angefertigten Derbyschuhe waren nur am Absatz etwas verschmiert. Im selben Augenblick revidierte er seine Meinung als ihm auffiel, dass das Portal halb offen stand. Von drinnen ertönte eine gedämpfte Stimme: „Drum taufe ich dich auf den Namen Sir William. Sir William, na wirst du wohl still halten?!“
          Als er vor Jahren nach Urft gekommen war, hatte er unweigerlich an das Schicksal jener ersten Missionare gedacht, die sich im grünen Martyrium der freiwilligen Verbannung aussetzten. Diesen üblen Gedanken hatte er natürlich über die Jahre verdrängt, doch ab und an riss die alte Wunde wieder auf. So wie jetzt, als er Zeuge jenes unsagbaren Sakrilegs wurde.
          „Ah Herr Pfarrer. Ich bin gekommen, um Ihnen die Beichte abzunehmen“, sprach das kleine Männchen in zwangsjackenweiß – ein alter Kauz, der vorne am Taufstein stand und seinem Schaf Wasser über den Kopf goss. Eine verirrte Seele, ohne Zweifel. Ein Plagegeist, der sich Zutritt ins Allerheiligste verschafft hatte, wenn auch offenkundig ein harmloser. Der Winzling begrüßte ihn mit einer dreisten Verbeugung. „Wo bleiben meine Manieren. Sancho, mein Name und das hier ist mein treuer Gefährte Sir William. Wir sind Antipilger auf dem Weg nach Saint Gilles.“

„Ein Irrer, sagen Sie?“ Ante und Bürgermeister Erlenberg hatten die Fremde erstmal ins Wirtshaus geleitet. Das Fabulieren fiel ihnen immer noch schwer. Es blieb ihnen nachwievor unbegreiflich, wie dieses engelsgleiche Wesen aus den höchsten Himmelsphären in ihre Mitte stürzen konnte.
          „Aber nein. Mein Patient leidet unter  anterogader Amnesie. Das bedeutet, er ist extrem vergesslich, konfabuliert – macht sich seine Welt widewide wie sie ihm gefällt. Bei Dementen kommt das manchmal vor, auch wenn wir bei ihm eher auf den Alkohol schließen.“ Wie wohlklingend ihre Lippen doch diese ganzen Zungenbrecher umschmiegten. Sie hatte sich dem Bürgermeister als Schwester Kora vorgestellt, die im Altersheim des zehn Kilometer entfernten Nachbarortes arbeitete. Auch Erlenberg war bewusst, dass er umgehend handeln musste.
          „Warten Sie doch hier für einen kurzen Augenblick, meine Liebe. Als Bürgermeister werde ich umgehend eine Suchaktion in die Wege leiten.“ Also setzte sie sich an einen der vielen Holztische – wunderte sich über den Eifer in den Augen der Dorfbewohner. Der winzige Ort gefiel ihr, auch wenn der Fortschritt wohl einen weiten Bogen darum gemacht hatte. Eins musste sie ihrem entflohenen Patienten lassen: Wenigstens kam sie durch ihn regelmäßig an die frische Luft.

Keine fünf Minuten später platzte Edward Schmierstraff, der junge Schuster, zur Tür hinein. Die Hektik, mit der ihn Ante ins Wirtshaus bestellte, hatte sich unweigerlich auf ihn übertragen. Wieland habe sich den Knöchel geprellt. So sehr, dass er nicht mehr aus seinen neuen Stiefeln herauskäme. Er sei bereits auf dem Weg zum ‚Apotheker‘ – übrigens der Name des Wirtshauses. Edward ließ sich auf einen der Stühle fallen. Der Notruf hatte ihn ganz durcheinander gebracht, sodass er die andere Gestalt im Raum erst viel zu spät bemerkte. „Sie wissen nicht, ob Wieland schon hier war?“
          „Ich vermute nicht. Sie wissen nicht, ob mein Patient schon aufgetaucht ist?“
          „Ihr Patient?“ Da es Kora zu mühselig wurde, setzte sie sich rüber an seinen Tisch.

Im Nebenzimmer vollführte Erlenberg einen stillen Freudensprung. Er hatte sich zusammen mit Ante und dem eigentlichen Besitzer der Wohnung, dem Apotheker Flaschenkrümmer, um das kleine Guckloch in der Holzwand geschart. Keiner verschenkte auch nur einen Gedanken an den entflohenen Verrückten. Viel wichtiger war, die Frau an das Dorf zu binden. Mit einem besorgten Nicken auf die ganzen Reagenzien und Kräutertinkturen gebot ihm Flaschenkrümmer sich zu beruhigen. Früher war das Gebäude tatsächlich noch eine Apotheke gewesen, bis der Honig-Met im Nebengewerbe um sich gegriffen hatte.
          „Wir könnten unserem kleinen Tête-à-Tête auch etwas nachhelfen“, raunte Ante dich hinter ihren. Eindringlich schaute er zu Flaschenkrümmer herüber. „Was braucht es denn für ein kleines Aphrodisiakum?“

Irgendetwas stinkt hier gewaltig, dachte sich Edward. Eben noch am Auspacken saß er nun einer hübschen Krankenschwester gegenüber – in seinem Alter! So als hätte ihn Urft absichtlich verschluckt um ihn zusammen mit einem vorbeifliegenden Paradiesvogel zu verdauen. Das roch nach den Machenschaften eines patriarchalen Geistes.
          „Er ist bestimmt schon siebzehn Mal ausgebrochen. Glaubt, er müsse seine Pilgerreise zu Ende bringen. Wie ein Gefangener in einer Zeitschleife.“ Sie lachte herzhaft als könnte sie es ihm einfach nicht übel nehmen.
          „Das muss lästig sein für Sie.“
          „Iwo, sonst säße ich doch nicht hier. Fast wie mit Ihrem Schuster. Ein eigentümlicher Zufall.“ Er mochte die Art, wie sie das sagte. Er mochte die Unbefangenheit, die aus ihrer ganzen Seele sprach. Zugleich missfiel ihm, wie schnell er sich doch bezaubern ließ.
          „Ganz recht. Ein wirklich eigentümlicher Zufall.“

Weitaus mehr am Rande des Absurden stand Pfarrer Ketzmaier. Um ehrlich zu sein, saß er bereits. Und zwar in der vordersten Kirchbank – suchte Halt gegen einen Sturm aus Blasphemie:
          „1998 lief ich von Santiago aus den Camino rückwärts bis zu den Pyrenäen. Von da ab die Via Tolosana Richtung Saint Gilles. Das war der Jakobsweg, wie sie ihn die italienischen Pilger bestritten – in verdrehter Etappenfolge versteht sich. Konnte den Weg nie beenden.“ Der Verrückte strich seinem gestohlenen Schaf mehrmals durchs Fell. „Habe ich Ihnen schon Sir William vorgestellt?“
          Ketzmaier wurde das wahrlich immer suspekter. Ein Rückwärtspilger, der zur Abtei des Heiligen Ägidius – Schutzpatron der Geisteskranken – aufgebrochen war. Hatte er es mit einem Satanisten zu tun? So wirkte er nicht auf ihn. „Es muss doch störend sein, immer entgegen der Flussrichtung zu schwimmen.“
          „Nicht störender als das, was unser Allvater mir in den Schädel gespuckt hat. Ein elender Sadist ist er. Das müssten Sie als Theologe doch am ehesten verstehen. Und wie ein Sadist werde ich mich ihm widersetzen.“ Mit einem Sprung war der Zwerg auf dem Altar und sah mit überheblicher Mine auf ihn herab. „Sehen Sie. Verrückt hat er mich. Mich, den Eroberer, sie den Lobpreisenden, und all die anderen, die sich mit diesem Altar verbunden fühlen. Ein Symbol der Selbsttäuschung. So ist das.“ Ketzmaier blieb sprachlos, hob die Arme zur Beschwichtigung. Sie verhedderten sich in seinem Pulli. Er ließ sie wieder sinken. Da fiel ihm eine kleine schwarze Nummer auf, die am Kittel des Alten eingenäht war. Eine Rufnummer – Halleluja!

„Alle Schuhe wie vom Erdboden verschluckt? Na dann sind sie ja jetzt ein ziemlich gefragter Bursche.“ Kichernd besah Kora seine orangefarbenen Budapester. „Tatsache, ein Schuhmacher. Und ich dachte, ich wäre kitschig.“ Für Edward lief das alles viel zu glatt. Das war nicht die öde Realität, die er kannte. Eben brachte ihnen Flaschenkrümmer auch noch zwei Gläser Rotwein.
          „Hatten wir die bestellt?“
          „Hattet ihr nicht?“ Fehlte nur noch, dass der verkappte Kellner ihnen eine Kerze flambierte.
          „Aufs Stichwort. Nun, dann trinke ich auf den Retter der erfrorenen Zehen“, sprach sie vergnügt und spülte ihren Spruch mit einem kräftigen Schluck hinunter. Edward setzte kurz an, ließ das Glas aber wieder sinken. Es roch viel zu süßlich für seinen Geschmack.
          „Sie machen sich bestimmt Sorgen um das Wohl ihres Patienten?“
          „Zugegeben mache ich mir mehr einen Kopf, ob ich nachher noch ans Steuer sollte. Was meinen Sie? Oder geht ein Schuster immer zu Fuß?“ Sie begann verschmitzt mit der Tischdeko zu spielen.

Im selben Augenblick schlugen bei Ante im Hinterzimmer die Alarmglocken. Pfarrer Ketzmaier steuerte schnurstracks auf die Kneipe zu. Das konnte er und Erlenberg vom Fenster aus beobachten. „Grundgütiger, Herr Krummstein. Sie müssen Ihn aufhalten!“
          Es war zwecklos – mit seinen neuen Derbyschuhen war er bereits über die Schwelle gespurtet. „Später lieber Ante. Ich muss einen dringenden Anruf tätigen.“ Der Totengräber war dicht hinter ihm in den Schankraum gestolpert. Zu dumm, dass sich ausgerechnet hier im ‚Apotheker‘ das einzige Telefon der Ortschaft befand. „Kann das nicht warten?“
          Kora prostete ihm zu. „Sieh an, der gute Herr Totengräber. Gibt’s schon was Neues?!“ Ante wusste bereits jetzt, dass er der Situation nicht herrhaft wurde. Was soll‘s, dachte er sich. Wenn der Pfaffe unbedingt telefonieren wollte, sollte er eben telefonieren. Solange er sich kurz fasste und die Romantik nicht vollends zerstörte.
          „Ich glaube, wir sind bereits auf einer heißen Spur.“ Das war das einzige, was ihm spontan einfiel. Ketzmaier ließ die Wählscheibe rasseln. Griff zum Hörer. In dem Moment vibrierte das Handy in Koras Hosentasche.
          „Ja bitte?“
          Verblüfft drehte sich Ketzmaier zu ihr herum. „Mademoiselle, Sie suchen nicht etwa einen entflohenen älteren Herren?“ Er sprach nachwievor in die Hörermuschel.
          „Einen Entflohenen? Ja ist es denn ein kleiner Entflohener?“
          „Sehr klein. Um die Einszehn, wenn ich mich nicht verschätze.“
          Sie aalte sich genüsslich in ihrem Sitz – das Handy fest am Ohr. „Die Farbe seiner Kleidung?“
          „Mademoiselle, woher hätte ich sonst Ihre Nummer?“
          „Ja, woher hätten Sie die nur?“, dabei knöpfte sie ihren Kragen etwas auf.
          „Außerdem führt er ein Schaf mit sich. Das wollte er taufen.“
„Ja, das klingt tatsächlich ganz nach ihm. Bestens. Bringen Sie ihn doch her. Also nicht das Schaf. Das können Sie gerne behalten.“ Sie legte auf, warf den Kopf zur Seite und musterte den Pfarrer mit schiefem Blick. Ante hätte am liebsten auf der Stelle alle Vorfahren der Familie Ketzmaier exhumiert.
          „Ich glaube, hier gefällt’s mir tatsächlich. Ein wirklich schrulliges kleines Örtchen ist das“, gab sie noch von sich, bevor sie vollends wegkippte.

Zwangsjackenweiß

Teil 4 von 5: Grabsteinviolett

„Ich sag’s ja. Die Viecher brauchen nur etwas Auslauf und schon – Schwupps!“ Ja Schwupps, dachte auch Ante der Totengräber. Zusammen mit Wieland stand er auf der Kanzel und wunderte sich über alle Maßen, wie ein vierbeiniger Wollbrocken nur einen derartigen Sprung vollführen konnte. Rund zwei Meter gähnende Leere trennten sie von dem Schaf, dass nun erhobenen Hauptes auf dem Geländer der linken Kirchenempore herumstolzierte. Die Biester waren weitaus geschickter, als er es für möglich gehalten hätte.
          „Nimm du den Aufgang zur Orgel. Ich bleib hier, falls es einen weiteren Flugversuch plant.“ Ante schwor sich: Wäre es tatsächlich so dreist, würde er dafür sorgen, dass es nie an der Kanzel ankäme. Nachdem der Pfarrer ihre Pläne pulverisiert hatte, brodelten in ihm die Mordgedanken – und wenn das Unschuldslamm dafür büßen musste.
          „Stimmt es eigentlich, dass der kleine Mann an Amnesie leidet?“, rief Wieland zu ihm rüber. Er nickte. Inzwischen stand der Schäfer auf der Empore und trieb das Tier systematisch in die Enge. „Hab ihn glaub vor Jahren schon mal gesehen, wie er sich an meiner Herde vergriffen hat. Und ich dachte schon, ich werde verrückt.“ Mit einem gewaltigen Satz warf er sich über zwei Kirchbänke auf einmal und packte das Tier im Schwitzkasten. Äußerst bemerkenswert, musste Ante zugeben. Also nicht Wielands Jagdgeschick, auch das war beeindruckend. Nein, die Tatsache, dass es sich um einen Wiederholungstäter handelte. Das ergab plötzlich völlig neue Möglichkeiten. Wer weiß, wie oft der Alte das Schaf noch stehlen würde?
          „Sag, wenn das arme Tier sowieso Auslauf benötigt, würdest du‘s mir dann vielleicht ausleihen?“ Mehrere Schweißtropfen verfingen sich in flauschiger Wolle. Wieland linste verdattert zu ihm rüber – der Bestatter thronte auf der Kanzel wie ein Todesengel.
          „Wenn’s dir Spaß macht. Aber nochmal: Sie ist kein Reittier!“
          Ante lächelte. „Natürlich. Übrigens hab ich noch ein weiteres Anliegen. Ich war nämlich nicht ganz ehrlich zu unserem Freund, dem Schuster.“

Auch Edward ahnte bereits, dass ihm übel mitgespielt wurde: Erst hielten ihn die Urfter fest, indem sie ihre eigenen Schuhe vernichteten. Dann logen sie, kredenzten Liebessäfte, um ihn mit einer völlig Fremden zu verkuppeln. Entsprechend war er außer sich, als er Wielands Scheune betrat. Zu dem Anlass trug er übrigens rote Mokassins. Ein Zeichen, dass er auf Kriegsfuß stand.
          „Herr Schmierstraff, sie wollen sich doch nicht ihr einziges Fläumchen abrasieren lassen?“ Bürgermeister Erlenberg saß bereits wie zu erwarten am Friseurtisch. Durch die Vorfälle im ‚Apotheker‘ fühlte er sich schäbig und ausgelaugt. Da kam ihm eine Spontanrasur ganz recht. „Stimmen die Gerüchte? Die junge Dame fand Sie ganz reizend, oder nicht?“
          „Machen Sie mir nichts vor. Es war ein verdammter Fehler, hier zu bleiben!“ Edward schnappte sich einen Hocker – versuchte sich zu beherrschen. Der Scheunendunst roch nach einer Mischung aus Schafskot, feuchtem Heu und einer Prise Haarspray.
          „Sie wirken angespannt. Als Junggeselle hat man‘s nicht leicht.“
          „Wo bleibt Wieland?! Hieß es nicht, er habe sich den Zeh so verstaucht, dass er nicht mehr aus seinem Stiefeln herauskommt? Oder war das nur ein billiger Vorwand, um mich in die Kneipe zu locken?“
          „Nicht doch, ich bitte Sie.“ Edward schnitt ihm das Wort ab, wie Leder mit einer Ziehklinge.
          „Dass ich hier der einzige Junggeselle bin, gibt ihren nicht das Recht, mein Leben oder das einer jungen Frau zu instrumentalisieren! Glauben Sie, es genügt zwei junge Menschen unterschiedlichen Geschlechts in einen Raum zu sperren und ihnen gepanschten Rotwein zu servieren?! Ich bin hier nicht der Erhalter von Urft! Und zu glauben, dass so etwas Billiges funktionieren soll, ist einfach widerwärtig!“ Seine Nerven waren mit ihm durchgegangen. Das merkte er an dem Hochdeutsch, dass sich in solchen Fällen immer seiner Zunge bemächtigte. Immerhin hatte das einen Moment Sprachlosigkeit zur Folge.
          „Aber nicht doch. Niemand wollte Sie in irgendetwas hineinreiten, Edward“, das erste Mal, dass Erlenberg seinen Vornamen benutzte, „und wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie doch Wieland. Da kommt er gerade.“ Tatsächlich. Am Scheunentor zeichnete sich die Silhouette des Schäfers ab. Er humpelte bzw. sein rechter Fuß war mächtig angeschwollen. Die augenblicklichen Schuldgefühle gaben Edward den Rest:
          „Gott im Himmel, Wieland! Was ist passiert?!“

Was wirklich geschah, bedarf einer kurzen Rückblende: Nach der erfolgreichen Jagd hatte Wieland Ante dabei geholfen, das Schaf auf den Kutschbock zu hieven. Beide standen nun abseits im Schatten der Droschke. „Du hättest sagen können, irgendetwas sei plötzlich an den Stiefeln gerissen. Du hättest jeden beliebigen anderen nennen können. Warum soll ich mir ausgerechnet den kompletten Fuß zertrümmern?!“ Wieland redete deutlich mehr als sonst, schneller und wenn man genau hinhörte, stotterte er ein bisschen.
          „Er mag dich wirklich, musst du wissen. Bei keinem anderen wäre er so schnell aus dem Laden gerannt.“
          „Dann sag ihm, du hättest dich geirrt.“
          Ante wusste, dass Feilschen nicht drin war. „Wieland, wenn der Junge bleiben soll, führt kein Weg dran vorbei.“ Diesmal sagte er das mit dem Ernst und Nachdruck seiner Zunft.
          Der Schäfer seufzte voller Verbitterung. „Gut, dann auf Drei.“ Und wie ein erbarmungsloser Aasgeier stürzte sich der Grabstein in ihren Händen auf seinen ausgestreckten Fußzehen.

Das Krankenhaus des Nachbarstädtchens befand sich direkt neben dem Altersheim. Ein hübsch gepflegter Garten umspannte die Anlage in der sich Pfarrer Ketzmaier so geborgen fühlte, wie ein Kieselstein im klaren Wasser. Die Wellen des Tages glätteten sich allmählich. Es tat gut, die Abgeschiedenheit von Urft für einen Augenblick hinter sich zu lassen. Fast war es, als befände er sich nach den Jahren der Barbarei zum ersten Mal wieder unter zivilisierten Menschen.
          „Machen Sie sich nichts vor. Sie sind ein guter Fahrer. Ich hätte es nicht mal bis zur Wagentür geschafft.  Dafür bin ich Ihnen was schuldig.“ Kora lief ihm von der Drehtür entgegen. Sie war immer noch etwas unbeholfen auf den Beinen und ihre Pupillen waren auf erotisierende Art geweitet. Nach dem Vorfall im ‚Apotheker‘ hatte Ketzmaier darauf bestanden, sie mit ihrem Auto heimzufahren. Glücklicherweise war der Antipilger ohne größere Gewaltandrohungen gleich mitgekommen.
          „Ich hätte nie gedacht, was so ein Glas Rotwein anrichten kann.“ Sie hakte sich bei ihm ein. Zu viel Körperkontakt machte den Pfarrer immer ganz dusselig.
          „Ist denn soweit alles wieder in Ordnung?“
          „Bis auf ein beständiges Kribbeln im Unterleib ging‘s mir nie besser. Lieb, dass Sie fragen.“
          „Ich meinte, Ihrem Patienten. Ist er denn versorgt?“ Sie schlenderten einen kleinen Kiesweg entlang. Ketzmaier roch ihr frisch aufgetragenes Parfum, mit dem sie offenkundig jegliche Alkoholausdünstungen abzutöten versuchte.
          „Ach, der Chefarzt lässt wieder mal das Schloss auswechseln. Das sollte meinen Patienten für ein paar Wochen aufhalten.“
          „Darf ich Sie was fragen?“ Ein hoffnungsvoller Seitenblick ihrerseits. „Wie kommt es, dass er keine Schuhe trug?“
          „Ach, die haben wir ihm abgenommen. Schweren Herzens. Menschen mit Ekmnesie leiden häufiger unter starken Kälteempfindungen. Aber selbst mit Pantoffeln hat er einen ziemlich festen Tritt.“ Der Pfad kroch an einem kleinen Lilienbeet vorbei und vereinte sich hinter der Kuppel mit dem Waldweg, der Richtung Urft führte. Selten hatte sich der Pfarrer so jung gefühlt.
          „Darf ich sie ebenfalls was fragen?“, meinte sie schließlich – nicht ohne neckischen Unterton. „Sind Sie nun eigentlich evangelisch oder katholisch?“ Ketzmaier ließ sich mit der Antwort mehr Zeit, als es für einen Prediger seines Standes sittlich war. Noch wusste er nicht, wie er ohne Wagen wieder heimkommen sollte. Es hatte auch keine Eile. Hoffentlich würde sich der Verrückte mit seinem Schloss nicht allzu viel Zeit lassen. Denn so eine zarte Frauenhand und dieses milde würzige Lächeln waren schon etwas ganz besonderes.

„Sie haben da was Rotes an ihrer Wange“, scherzte Ante, als er den Pfarrer wenige Minuten später zufällig aufgabelte. Irritiert wischte sich dieser mehrmals mit dem Ärmel übers Gesicht.
          „Sehr witzig, wirklich! Welch‘ Zufall Sie übrigens hier anzutreffen, Herr Krummstein.“
          „Nicht wahr? Sonst wären Sie am Ende noch gottverlassen durch den Wald geirrt.“ Ante hatte tatsächlich nicht beabsichtigt, dem Pfarrer zu begegnen. Hoffentlich war er nicht hell genug, nach dem Grund seiner Spazierfahrt zu fragen.
          „Was treiben Sie eigentlich so weit abseits von Ihrem üblichen Terrain?“ Verflixt – immer diese Notlügen.
          „Das Geschäft mein Lieber. Ganz wie bei Ihnen. Sie kümmern sich um die göttliche Ordnung zwischen Männlein und Weiblein und ich räume später den Dreck weg.“ Er stupste seine Stute mit der Gerte an. Bis nach Urft war es ein gutes Stück mit der Kutsche und lange würde er diesen verbalen Schlagabtausch nicht ertragen.
          „Grabsteine, nehme ich an?“
          „Ein steinharter Broterwerb.“
          „Ich bin mir sicher, Sie und Ihre Verkäufer verstehen sich prächtig.“ Weil er dabei hinter sich auf die Verladefläche linste, tat es ihm Ante gleich. Kein Zweifel, das dämliche Vieh hatte darauf nicht nur einmal sein Geschäft verrichtet.
          „Ja, man respektiert sich durchaus unter den Kollegen.“ Damit lächelte er den Pfarrer süffisant an – der Blick einer Hyäne. Was soll’s, dachte sich Ante. Alles war planmäßig verlaufen, der Pfaffe hatte keine Ahnung und die Kutschfahrt würde er auch noch überleben. Ein Glück, dass er keinen Spaten dabei hatte. Sonst käme er noch auf dumme Gedanken.
          Als die schwarze Droschke nach einer Weile eine Lichtung passierte, glaubte er am Waldrand sogar eine Gestalt zu erkennen – nur für den Bruchteil weniger Sekunden. Ausgeschlossen, dass ein Theologe das erfassen konnte, wo sein Blick doch auf jenseitige Dinge gerichtet war. Ante war sich nicht mal selbst sicher. Aber das Wesen besaß erstaunlich viel Ähnlichkeit mit einem Reiter – ein Zwerg, der auf einem gestohlenen Schaf durch den Wald galoppierte.

Grabsteinviolett

Teil 5 von 5: Hinterwäldlerrot

Der kleine Schnauzer sauste um die Ecke, zitterte wie Espenlaub. Er zog einen langen Speichelfaden hinter sich her und benetzte damit einige unfertige Brandsohlen auf dem Fußboden.
          „Na, ein guter Wachhund bist du ja nicht gerade, du Hasenpfote“, raunte Edward Schmierstraff. Mit einem Satz war er in seinen warmen Pantoffeln und trottete den Sabberspuren hinterher. Die vergangenen Tage hatten ihn ausgedörrt. Immer die gleiche Frage malträtierte seinen Schädel: Gehen? Bleiben? Doch lieber gehen? Wollen doch mal sehen, was dem Köter solche Angst eingejagt hatte.
          Ein Schaf stand an der Ladentür. Auf ihm saß ein kleiner älterer Herr in weißem Anzug. Sein verwirrter Blick streifte über die Schuhregale, während die nackten Füße über den Filzboden pendelten. „Herr Schuster, Sie können mir doch weiterhelfen? Ein Schaf ist zwar eine prima Sache, aber mit der Zeit wird es doch etwas frisch um die Zehen.“
          Wahrlich, jetzt konnte Edward seinen Hund verstehen und wäre ihm am liebsten hinterhergerannt. Doch der Kunde bleibt König. Nach einer Weile löste sich sein Gehirn aus der Schockstarre: Kein Zweifel, das musste dieser Irre aus dem Altersheim sein. Wie war er so schnell wieder ausgebrochen? Ein unglücklicher Zufall oder hatte ihm jemand geholfen? Wurde er bereits gesucht? – Plötzlich dämmerte es ihm: Solange der Alte auf freiem Fuß lief, war auch Schwester Kora nicht weit. Die Urfter wollten sie verkuppeln. Und nicht mit irgendwem – mit ihm!
          „Ich habe leider nicht viel dabei. Bräuchte nur was Trittfestes. Sie verstehen: Gegen unliebe Verfolger.“ Edward begriff: Dieses irre Lächeln, das Schaf das gerade auf seinen Filzteppich urinierte – sie bildeten in Wahrheit nur die apokalyptischen Vorboten des eigentlichen Unheils. Wenn er nicht ebenfalls floh, würden ihn die Dorfbewohner für den Rest seines Lebens festnageln.
          „Wie wäre es denn mit diesen Kinderhalbschuhen? Die Auftrittfläche der Trotteurabsätze ist erstaunlich klein. Leicht, hart und kantig. Geschickt eingesetzt, reicht das um ein paar Mittelfußknochen zu brechen“, es erstaunte ihn selbst, wie nüchtern er das formulierte. Der Alte kletterte sofort von seinem Reittier und zog sie sich über.
          „Wie angegossen!“ Er strahlte. „Ich bezahle auf der Stelle, sonst vergesse ich das noch.“
          „Ich schenk sie Ihnen. Sagen Sie, macht es was aus, wenn ich Sie ein Stück begleite?“

Jener Fall trug sich an einem Sonntagmorgen zu, weshalb sich nicht ungemein später die gesamte Urfter Gemeinde in der Kapelle versammelte. Hier offenbarte sich wieder einmal, dass ein ländlicher Weiler durchaus mit einem hochsensiblen Messinstrument verglichen werden kann. Nachrichten fließen in Sekundenbruchteilen von einem bäuerlichen Individuum zum nächsten. Einer der empfindlichsten Sensoren besaß natürlich Ante der Totengräber. Gelangweilt zog er seine Taschenuhr auf, um die Predigt des Pfarrers zu stoppen. Drittes Buch Mose war angekündigt – er verwettete seine Stute auf 35 Minuten. Da fiel ihm auf, dass unter den dösenden Anwesenden einer fehlte.
          Über die Toilette schlich er sich zur Tür hinaus, flitzte die kleine Hauptstraße entlang zum Schuhgeschäft. Tatsache, alles dunkel und still. Er rüttelte am Türknauf. Abgeschlossen. Er lief rüber zu Wielands Scheune, borgte sich die lange Obstleiter, erklomm damit die Hausfassade: Auch im Schlafzimmer nur träumende Schuhe. Ein schneller Blick auf die Uhr: 15 Minuten, um das Rätsel zu lösen. Drum rutschte er die Leiter hinunter, verstaute sie als sei nichts gewesen, folgte der Hauptstraße bis runter zum Fluss. Dort bestätigten sich seine schlimmsten Befürchtungen: Teufel, das Floß war weg! Stattdessen nur ein dampfender Schafshaufen am Anlegesteg. Conclusio: Der irre Schafsdieb musste dem Schuster über den Weg gelaufen sein. Und dabei hatte Ante dem Alten noch geholfen auszubrechen. Verflixt, so war das nicht geplant!
          Die Taschenuhr zeigte gerade 34 Minuten 51 Sekunden, als er schweißgebadet das Kirchportal aufstieß. Drinnen raunte die Gemeinde gerade ihr allumfassendes „Amen“ – dann drehten sie sich zu dem Störenfried um. Der Totengräber  schaffte es, seine Antwort klar und unmissverständlich auszudrücken:
          „Schmierstraff und der Antipilger haben das Floß genommen. Sie sind auf der Flucht!“

Flussabwärts kämpften vier Gestalten mit der Strömung. Es war auch gar nicht leicht, das Floß in Balance zu halten, zumal Bente, der kleine Schnauzer, immer wieder panisch von einem Eck ins nächste hopste. Sir William – die personifizierte Angst – schien die Bootsfahrt weitaus mehr zu genießen. In seinem Maul zerkaute er genüsslich eine Hand voll Schilfgras.
          „Das sind wirklich außerordentliche Schuhe“, bemerkte der Alte am Ruderriemen. Das wunderte Edward. Es war das erste Mal, dass der Alte von dem ständigen Mantra über das Rückwärtspilgern abwich. Er strich sogar zärtlich über die Lederleisten, sah ihn dabei freundlich an. Vielleicht ahnte er ja, von wem er sie hatte.
          „Als Laminat befindet sich eine spezielle Klimamembran im Futter. Alles imprägniert und zusammen mit dem Gummischutzrand absolut wasserdicht.“ Edward war sehr stolz darauf. Er wusste jedoch, dass es wenig Sinn machte, das jemandem mit Gedächtnisschwund zu erläutern. Trotzdem kam es ihm so vor, als bewundere der Alte seine Arbeit – sogar aufrichtig! Damit war er freilich der Erste.

Ja, Respekt vor dem Werk des Nächsten, dachte auch Pfarrer Ketzmaier. Sie hatten ihn alleine auf der Kanzel zurückgelassen – waren hinausgestürmt wie ein Rudel aufgescheuchter Jagdhunde. Nicht mal den Segensspruch hatte er erteilt! Gedanken zerkauend trottete er über den zwielichtigen Mittelgang – sammelte links und rechts Gesangbücher ein. Er formulierte bereits an der Hasspredigt, die er ihnen kommende Woche um die Ohren schleudern würde – Zunder für das schlechte Gewissen. Durch die offene Pforte bemerkte er einen roten Kleinwagen, der auf dem Dorfplatz hielt.
          „Nanu? Gibt es Freibier oder sind alle Herrschaften ausgeflogen?“ Ein engelsgleiches Wesen war dem Wagen entstiegen. Als er Kora wiedererkannte, war es, als zerschmolzen seine Arme zu Butter. „Sie an“, lachte sie, während er die fallengelassenen Bücher hastig aufhob, „Schwarzer Talar und weißes Beffchen. Also doch ein Protestant.“

Ein Peitschenhieb zersägte die Stille des Waldes, darunter Basstöne galoppierender Hufe. Die schwarze Trauerkutsche preschte den Pfad entlang, der parallel zum Fluss verlief. Auf ihr purzelten die Verfolger übereinander. Untermalt von der ‚Wilhelm Tell Ouvertüre‘ von Gioachino Rossini sicherlich ein äußerst amüsantes Spektakel: Vorne Wieland, der einen Spezialhacken an seiner Angelrute befestigte. Auf dem Hintersitz Erlenberg – irgendetwas hielt er unter seinem Mantel verborgen. Und auf dem Kutschbock selbstverständlich Ante, der mit seinen Goldzähnen dem Fahrtwind entgegen lachte. Ohne Grabsteine fuhr es sich leichter. So zackig und aerodynamisch war er schon lange nicht mehr durch den Wald gebrettert.
          „Da vorne hinter dem Flussarm!“ Das Floß kam in Sichtweite und bald hatten sie es eingeholt.
          „Edward Schmierstraff!“, schrie Erlenberg – wie immer übernahm er das Brüllen. „Steigen Sie unverzüglich von dem Floß!“ Perplex blickten Schuster, Schaf, Hund und alter Mann zu ihnen rüber.
          „Damit Sie ihren einzigen Buben gegen die Herzdame ausspielen?! Ich denk nicht dran!“
Auf diese Dreistigkeit zückte der Bürgermeister eine uralte Jagdpistole aus seinem Wams – selbst Ante und Wieland waren verblüfft.
          „Es ist Ihre verdammte Bürgerpflicht!“ Zur Bestätigung spannte er den Hahn. „Was Sie da tun, zeugt wahrlich nicht von Dorfgemeinschaft! Nicht von Loyalität! Wir hielten Sie für einen der unsrigen. All die Jahre – und jetzt meutern Sie!“ Er feuerte einen Warnschuss ins Blätterdach über sich.
          „Nicht schießen“, entgegnete es eingeschüchtert von der Flussmitte. „Wir sind nur Pilger auf dem Weg nach Saint Gilles. Ich bin Sancho, das ist Sir William ...“
          „Haben Sie das gehört?!“, brüllte Edward. „Saint Gilles. Das liegt im Süden Frankreichs. Und genau da zieht‘s mich auch hin! Urft braucht keinen Schuster!“ Ein flüchtiger Blickwechsel zwischen Ante und Erlenberg – Erlenberg und Wieland. Letztgenannter holt kräftig aus und schleuderte den Angelhacken zielsicher auf das Floß. Surrend zog sich die Schnur fest.

„Es sind keine Barbaren. Höchstens etwas rückständig. Aber zu Gewalt würden sie nie greifen. Ich schätze, das liegt wohl daran, dass es dieser Einöde schon lange an dem mangelt, was man wohl ‚weibliche Note‘ nennen könnte.“ Ketzmaier hatte Sie zum obersten Kirchturmfenster geleitet. Von hier oben wirkte das Dorf noch mickriger als von unten. Der Pfarrer war sich nicht sicher, weshalb er sich vor der Krankenschwester rechtfertigte. Eigentlich wollte er ihr viel lieber ein Lächeln entlocken.
          „Trotzdem macht doch gerade dieses Einfältige Ihren Ort aus. Ich weiß nicht, ich mag diesen hölzernen Umgang – sogar sehr.“ Dabei schaute sie ihm direkt in die Augen und für ein Weilchen sagte niemand etwas. Bis schließlich… „Wie spät ist es eigentlich?“
          Herrje! Ketzmaier hatte die Uhrzeit völlig vergessen! Der Minutenzeiger seiner Armbanduhr rastete gerade bei der Zwölf ein. Über sich ächzten bereits die tonnenschweren Messingglocken. Es war zu spät, um davonzulaufen.

„Zu freundlich, dass sie uns mitgenommen haben, meine Herren. Es ist mir eine Ehre.“ Der Antipilger nickte jedem auf den Kutschsitzen zu. Er hatte keinen blassen Schimmer, dass er in Wahrheit ein Gefangener war. Sein glasiger Blick starrte durch Edward hindurch – kein Zeichen von Wiedererkennung lag darin. Der Schuhmacher saß eingekeilt zwischen Bürgermeister und Wieland. Also direkt gegenüber von dem Alten, seinem Schaf und dem Hund. Ohne Komplizen standen die Chancen auf Flucht wahrlich miserabel. Hinzu kam der Pistolenlauf, der ihm in die Seite stach. Einfach nur irre – alle miteinander. Besaß das System eine Achillesverse? Wielands rechter Zeh war noch immer pflaumenförmig angeschwollen. Es half alles nichts außer dem Mann mit dem Gedächtnisschwund verzweifelte Blicke zuzuwerfen in der Hoffnung, er würde sich erinnern.
          „Es ist ganz einfach, Edward“, zischte ihm Erlenberg ins Ohr. „Sie werden der guten Schwester ihren Patienten wiederbringen. Überglücklich wird Sie kaum eine Einladung zum Essen ablehnen. Bitte seien Sie doch höflich und charmant. Da sind wir nämlich äußerst nachtragend in Urft. Denn Herumtreiber, die junge Damen von der Bettkante stoßen, mögen wir ganz und gar nicht.“ Wieland bestätigte den scharfen Blick Erlenbergs mit einem raschen Kopfnicken.
          „Sieh es halb so wild, Junge“, rief Ante vom Kutschbock, „Ist wie in den früheren Familien. Da hatten die Söhne auch wenig Mitspracherecht bei der Eheschließung. Liebe ist nichts, was einem zufällt. Wenn man bisschen rumhobelt, wird selbst aus der grausigsten Furie ein semiakzeptables Eheweib. Und so übel sieht sie nun wirklich nicht aus.“
          „Wieland, hast du auch noch eine unterschwellige Drohung für mich?“
          Der Schäfer brummte etwas Unverständliches. Nicht Mal jetzt konnte ihm Edward böse sein.
          „Sagen Sie, mein Herr, wie finden Sie eigentlich meine neuen Schuhe?“ Dem Alten musste aufgefallen sein, dass er gar nicht mehr zu zittern brauchte. „Ein tolles Geschenk, wirklich. Von einem sehr großzügigen …“ Sein Blick verhedderte sich mit dem des Schusters. Den Alten traf der Schlag.
          „Sie, mein Herr. Sie kenne ich doch!“ Seine Augen tanzten wie Tischtennisbälle in. „Wir waren zusammen …“ Dann ein Entschluss, bevor er den Satz zu Ende brachte.
          Was folgte, lässt sich am besten durch ein grundlegendes physikalisches Prinzip beschreiben: Je größer die Beschleunigung einer bestimmten Masse mit möglichst geringer Fläche, desto größer der Druck und die daraus resultierenden Schmerzen. Ein gezielter Tritt mit den Trotteurabsätzen und Bürgermeister Erlenberg krümmte sich auf dem Verladedeck der Droschke. Ein Vorschlaghammer hätte dem Mittelfußknochen nicht minder geschmeichelt.
          „Laufen Sie!“, brüllte der Alte, hechtete sich übers Kutschgeländer und war im Unterholz verschwunden. Auch Edward wusste das Überraschungsmoment zu nutzen.
          Wie ein abgeknallter Albatros landete er in einem Dornengestrüpp abseits des Weges. Etwas riss an seiner Jeans. Die Budapester spritzten Schlamm auf. Dann rannte er. Rannte blind dem verrückten Zwerg hinterher. Möglichst weit weg von der Kutsche.
          „Hier entlang!“ keischte es vor ihm. Er flitzte um eine Tanne. Erstaunlich, wie schnell der Alte doch war. Als er ihn einholte, blieb jener unverhofft stehen, packte ihn am Arm. Ein gequälter Ausdruck huschte ihm übers Gesicht. „Rheuma!“ Ein Pistolenknall und beide zuckten zusammen. Seine Hand krallte sich tiefer in Edwards Oberarm. Zum Glück hatte es niemanden erwischt.
          „Versprechen Sie mir, dass Sie meinen Weg zu Ende gehen. Versprechen sie mir, dass Sie in Saint Gilles etwas für mich erledigen.“ Er zerrte ihn zu sich, murmelte etwas in sein Ohr wie ein Sterbender in einem billigen Italowestern. „Tun Sie das für mich?!“ Er konnte diesem Blick nicht widersprechen. Als er nickte, entspannten sich die alten Gesichtszüge. Aus Falten wurden wieder Furchen. „Sehr gut. Ich schätze, die lassen mich nicht so einfach gehen – nicht ohne mein Schaf.“
          Dann erst erkannte Edward, dass es nicht das Rheuma war, was den Alten aufhielt. Eine Angelschnur hatte sich um seine Schenkel gewickelt. Mit einem Ruck riss es ihm den Boden unter den Füßen weg. Edward konnte nur noch sehen, wie sein Retter bäuchlings Richtung Kutsche gezerrt wurde – wie ein übergroßer Karpfen. Bevor das gleiche mit ihm geschah, nahm der Schuster reißaus. Bente sprang ihm hinterher ins Gestrüpp.

Ketzmaier hockte sich direkt vor den roten Kühler. Als er nach ein paar Minuten immer noch nichts wahrnahm, stand er auf. Seine Lippen formten die Worte „Nichts zu machen“, aber selbst das konnte er nicht hören. Kora trommelte erneut mit ihren Fäusten auf die Hupe. Erfolglos. Ein kurzes Achselzucken, dann kletterte sie aus dem Wagen. Vögel, Wind, das sanfte Kratzen der Schuhsohlen, die zuschlagende Autotür, das Surren der Heuschrecken – es war, als würde die gesamte Palette an Geräuschen von einem dumpfen Teppich aus Stille zerdrückt.
          Beide lachten drauf los, teilten ihren gemeinsamen Hörsturz. So bemerkten sie die Droschke erst, als sich etwas am Rande ihres Sichtfeldes verfinsterte. Zwei Männer mit Klumpfüßen stiegen aus – links Wieland und rechts der Bürgermeister, der mit jedem Schritt einen blutigen Abdruck hinterließ. Zwischen ihnen lief der kleine alte Mann. Sein sorgloser Blick verriet, dass er wieder alles vergessen hatte.
          Stumme Lippen, die sich bewegten. Schwester Kora, wie sie ihren Patienten freundlich in Empfang nahm. Dann der Totengräber, der Katzmaier irgendetwas zumurmelte. Selig sind die Tauben, denn sie bleiben von den Dummschwätzern verschont.
          „Mir ist da was aufgefallen, Herr Pfarrer“ , entgegnete Ante schnippisch. „Vielleicht war der Schuster gar nicht unser letzter Junggeselle. Vielleicht haben wir die ganze Zeit einen übersehen.“ Als Ketzmaier immer noch nicht reagierte, gab er die Anspielung auf. Immerhin erhaschte er noch, wie die Krankenschwester dem Pfarrer einen Zettel zusteckte. Dann stieg sie in ihren Wagen und brauste davon. Äußerst interessant, dachte sich Ante. Vielleicht war das Frauenproblem am Ende ja doch noch gelöst. Natürlich würde er niemals erfahren, was auf dem kleinen Fresszettel stand. Es war auch nichts Besonderes, lediglich folgende Zeilen:
          „Da wir beide zu taub sind für Abschiedsworte, ist es wohl unvermeidlich, dass wir uns wiedersehen werden.“

Das Kapitel Urft endet somit stumm – ohne Epilog. Und falls es jemals ein Schlusswort gab, spielte es sich nicht zwischen den Fachwerkhäusern der Gemeinde ab, sondern mehrere Kilometer entfernt im Süden Frankreichs:
          Eine Woche später traf hier ein 38 Grad heißer Urinstrahl auf das Sandsteingemäuer der Abtei Saint-Gilles–du-Gard. Verstohlen blickte sich Edward mehrmals um. Niemand bemerkte ihn. Drum schloss er die Augen und ließ vollends ab, was abgelassen werden musste. Er beging diesen Frevel nicht aus freien Stücken, auch wenn er seine Blase vorher ordentlich mit Wasser betankt hatte. Nein, er war einfach nur ein Mann, der zu seinem Wort steht. Und einem ‚gefallenen Kameraden‘ den letzten Wunsch zu erfüllen – sollte sich jener irgendwann an ihn zurückerinnern – war einfach Ehrensache.
          Hastig zog er wieder den Reißverschluss hoch und gab Bente einen Ruck. Nicht, dass der  Köter noch auf dumme Gedanken kam. Der Antipilger hatte sein letztes Sakrileg vollbracht.
          Beschwingt nahmen die orangefarbenen Budapester Kurs aufs Stadtzentrum, schwammen wie zwei leuchtende Delphine durch ein Meer aus staubigen Flipflops, Sneakers und Sandalen. Menschen, dachte Edward. Menschen, wohin das Auge reichte. Mit solch gänzlich unterschiedlichen Fußgelenken und Fersen, dass es ihn zum Tanzen beflügelte. Nach Wochen fühlte er sich zum ersten Mal glücklich und frei – losgelöst.
Oh Mensch, kam es ihm in den Sinn. Mensch, wieso grämst du dich, solange du feste Sohlen unter deinen Zehen spürst und Gras deine Waden umspielt – denn ein herrlicher Weg liegt noch vor dir.

Philipp Neuweiler

Hinterwäldlerrot

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